Hallo ihr lieben hochsensiblen Menschen,

mein Sohn hat mir vor einiger Zeit eine Karte geschenkt. Er hat sie mir ganz beiläufig zugesteckt und gesagt: „Guck mal, das passt zu dir.“ Was dann kam, war zwar nicht der Cadillac unter den Momenten, in denen mir die Kinnlade heruntergeklappt ist, aber das Oldsmobile schon. Denn da stand: „Als der liebe Gott die Geduld verteilte, stand ich im Stau und hupte.“

Ein guter Beobachter, mein Junge, das muss ich eingestehen. Und mein Geduldsfaden hat sich auch bis heute nicht gravierend geändert. Immer noch heute möchte ich Dinge, die mir wichtig sind, gern gleich. Vielleicht habe ich inzwischen gelernt, dass das nicht immer möglich ist. Aber die Ungeduld bleibt trotzdem.

Und jetzt sind wir in einer Zeit, in der wir genau das aushalten müssen. Zur Ruhe kommen, geduldig sein, keine Angst entwickeln und Hoffnung behalten. Viele Menschen berichten mir, dass sie das als große Prüfung wahrnehmen. Sie fühlen sich eingeengt, fremdbestimmt und wünschen, dass das endlich aufhört und sie zum normalen Leben zurückkehren können. Andere sehen in dem Lock-Down eine große Chance, eine Möglichkeit anzuhalten, zu entschleunigen, sich selbst zu finden und dabei Eindrücke wahrzunehmen, für die sie sonst keine Zeit hatten.

Der Unterschied zwischen beiden ist nicht unbedingt Geduld. Sie ist eher das Resultat. Der Unterschied ist, wie wir die Dinge sehen. Ob wir uns in einem „Weg-von-Schema“ befinden oder in einem „Hin-zu- Modus“ denken.

„Weg-von“ bedeutet, den Blick vergleichend auf das Vergangene zu richten. Wir nehmen möglicherweise wahr, dass wir etwas verlieren oder vermissen. Oder, dass wir die gegenwärtige Position als unzureichend ansehen und uns davon entfernen wollen. Wir erkennen vielleicht, dass sich Türen schließen, manche wohl möglich für immer. Das kann sehr schmerzhaft sein und traurig machen. Viele Menschen, die sich im früheren, alltäglichen Gewimmel mit ganz viel Aktivität abgelenkt haben, müssen sich jetzt auch mal ganz allein aushalten.

Aber wie würde es uns gehen, wenn wir beginnen, im „Hin-zu-Modus“ zu denken?

Dann öffnet sich der Weg für Neues. Wenn Türen sich schließen, öffnen sich andere. Das habe ich in meinem Leben immer wieder erfahren. Und ist es nicht doch irgendwie spannend, herauszufinden, was für Chancen in Situationen stecken, die wir zuerst einmal als schlimm und unerträglich wahrnehmen? Anhalten, nachdenken und Neues beginnen, braucht keine mühsame Geduld, eher Neugier und Wissensdurst. Und davon haben wir HSP doch jede Menge.

Meine Freundin und Kollegin Barbara hat neulich ganz despektierlich von einer „Löffelliste“ gesprochen. Das ist die Aufstellung aller Dinge, die ich unbedingt noch machen will, bevor ich meinen Löffel abgebe. Und, habt ihr eure Löffelliste schon fertig? Meistens denken wir doch über solche Dinge als verpasste Chancen nach. „Ach, das hätte ich immer so gern gemacht. Das habe ich immer verpasst. Das hat nie geklappt. Dazu hätte ich so gern Zeit gefunden.“ Gab doch immer Gründe, warum es grade nicht ging. Was ist, wenn wir an diese Dinge mal mit dem „Hin-Zu-Modus“ denken? Dann gibt es plötzlich viel mehr kurz-und mittelfristige Ziele, die noch zu erreichen sind. Dann ist, Zeit zu haben, plötzlich ein großes Gut. Und ich habe gemerkt, wenn ich so denke, höre ich sofort auf zu hupen und beginne zu planen, zu entwickeln und zu kreieren. Nicht alles ist sofort realisierbar, aber so vieles, dass ich alle Hände voll zu tun habe.

Ich lade euch ein, über euren Tellerrand zu schauen, das Unmögliche mal ins Auge zu fassen und das zu tun, was ihr schon immer mal machen wolltet.

Ich denke an euch, freue mich sehr, dass ich als hochsensibler Mensch nicht allein bin und habe mir fest vorgenommen, euch alle in den Arm zu nehmen, sobald dies wieder möglich ist.

Andrea